Leseprobe

"Gefährliche Lüge"

Montag, 11. November 2024

„Polizei-Notruf, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Meine Tochter! Sie haben meine Tochter entführt“, schrie eine aufgebrachte Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. „Sie sagen mir, es habe sie nie gegeben, aber das …“

„Bitte sprechen Sie etwas langsamer.“ Rebecca Festle war sofort in Alarmbereitschaft. Die Tonlage der Anruferin ließ keinen Zweifel über den Ernst der Lage aufkommen. 

„Wie heißen Sie?“

„Raunfeld. Nadja Raunfeld. Bitte helfen Sie mir! Ich kann sie nicht finden.“ Sie schluchzte. „Ich habe entbunden und jetzt ist sie weg.“

„Bitte schildern Sie mir genau, was passiert ist.“ 

Nadja schrie außer sich. „Sie haben sie mir einfach genommen und jetzt behaupten die …“ Die Stimme brach ab.

„Frau Raunfeld, ganz langsam. Wo befinden Sie sich aktuell?“

„Ich weiß nicht. In der Nähe der Solitude.“

Rebecca sah auf ihren Bildschirm. Der Standorttracker ortete das Mobiltelefon der Frau nahe einem Waldgebiet in Gerlingen.

Die Stimme der Anruferin wurde leiser. „Sie sagen, es gab sie nicht.“

„Ihre Tochter? Und wer sind sie?“

Nadja antwortete nicht, stattdessen schluchzte sie.

„Ich versuche Ihnen zu helfen, aber dafür muss ich verstehen, was passiert ist.“

„Keine Ahnung. Ich … Ich bin aufgewacht und dann war sie weg. Ich war zur Entbindung in der Annaberg-Klinik, aber jetzt kann ich sie nicht mehr finden.“

„Wann war das?“

„Gestern Morgen.“ 

Warum rief sie jetzt erst an? Rebecca runzelte die Stirn.

„Ich dachte, ihr wäre etwas zugestoßen, aber sie haben sie mir gestohlen und …“ Ihre Stimme stockte abermals. „Ich muss Cecilie finden. Ich weiß, dass sie am Leben ist.“

„Cecilie ist der Name Ihrer Tochter, richtig?“

Die Stimme war tränenerstickt. „Sie haben sie entführt!“

War jemand in die Klinik eingedrungen und hatte ein Baby entführt? Doch in diesem Fall hätte die Klinik sofort die Polizei verständigt. Und warum sollte jemand abstreiten, dass es ein Baby gab? Nadja Raunfelds Tonlage ließ für Rebecca keine Zweifel aufkommen, dass das Mädchen vermisst wurde. Die Karte zeigte ihr einen kleinen, leuchtend roten Punkt, von dem Frau Raunfeld aus anrief. Daneben erkannte Rebecca eine großflächige Anlage, die mit 'Annaberg-Klinik‘ markiert war und in unmittelbarer Nähe das Schloss Solitude lag. Durch das Telefon drang hektisches Atmen. „Frau Raunfeld, bitte bleiben Sie einen Augenblick dran. Ich verständige einen Streifenwagen, der direkt zu der Klinik fährt.“ 

„Nein!“, schrie Nadja.

Rebeccas Puls schlug einen Salto. „Warum nicht? Wenn Ihre Tochter entführt wurde, sollten wir sofort eine großflächige Suchaktion einleiten.“

„Das werden sie nicht zulassen!“

Rebecca war verwirrt. „Wen meinen Sie mit sie?“

„Die Klinik!“

„Sie meinen, die Annaberg-Klinik könnte etwas mit dem Verschwinden von Cecilie zu tun haben?“ Im Hintergrund vernahm Rebecca ein Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. 

„Ich weiß es. Sie wollen nicht, dass ich anrufe. Sie wollen mir weismachen, mein Kind habe es nie gegeben.“ Sie schniefte. „Aber das ist eine Lüge. Meine Tochter hat gelebt. Ich weiß es.“

Rebecca horchte auf. War es möglich, dass die Anruferin die Sachlage falsch einschätzte? „Frau Raunfeld, ich bin sicher, wir können das klären. Ich schicke einen Streifenwagen zu der Klinik, in Ordnung?“

Keine Antwort. Rebecca hörte nur noch ein Atmen, dann die leise, brüchige Stimme von Raunfeld. „Es ist zu spät. Sie kommen mich holen.“

„Wer kommt Sie holen?“

Ein Schrei. Stimmen. Die Verbindung brach ab.


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