Leseprobe

 "Fataler Wahn"

Sie schreckte hoch. Was sie geweckt hatte, wusste sie nicht. Da sie in der Dunkelheit nichts erkennen konnte, knipste sie das Licht an. Sie sah sich um. In ihrem kleinen, schäbigen Zimmer wirkte alles normal – die Stehlampe neben ihrem Bett, die Kommode an der Wand, die schlammgrüne Couch. Nichts deutete darauf hin, dass jemand in ihre Wohnung eingedrungen war. Und dennoch stieg Angst in ihr auf. Sie lauschte. Das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das Hämmern ihres Herzschlags.
Leise, darauf bedacht keine unnötigen Geräusche zu machen, stand sie auf und ging zum Fenster. Es war Wochen her, dass sie zuletzt ihre Wohnung verlassen hatte. Wenn sie es tat, dann nur um Lebensmittel einzukaufen und davon viele, damit sie erst mal nicht mehr raus musste. Die meisten Dinge bestellte sie online. Das Risiko, ihm zu begegnen, war einfach zu hoch.
Vorsichtig schob sie die schwarzen Vorhänge beiseite. Aber nur ein winziges Stück, gerade groß genug, um einen Blick nach draußen zu erhaschen. Büsnau lag im Tiefschlaf. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie war hierhergezogen, in der Hoffnung, ihren Frieden zu finden. Am äußersten Rand von Stuttgart, weit genug weg von ihm, aber nicht zu weit, um ab und an nach ihren Eltern sehen zu können.
Sie erkannte den Zaun, der das Gartengrundstück umgab. Ein paar parkende Autos. Die Straße. Nichts deutete darauf hin, dass sie jemand beobachtete. Doch da war dieses Gefühl. Sie konnte es selbst nicht erklären. Stand dort jemand neben dem dunklen Kastenwagen? Sie versuchte etwas zu erkennen, aber der matte Schein der Straßenlaterne reichte nicht aus. Das Risiko, auf ihren Balkon hinauszugehen, würde sie auf keinen Fall eingehen. Er ist nicht hier, versuchte sie sich zu beruhigen. Erst eine Woche zuvor hatte sie geglaubt, er stünde direkt vor ihrer Wohnung. Doch als sie endlich den Mut aufgebraucht hatte, die Tür einen Spalt zu öffnen, sah sie nur ein leeres Treppenhaus.
Sie wandte sich vom Fenster ab. Ehe sie wieder ins Bett ging, musste sie den Rest der Wohnung überprüfen. Obwohl sie in dieser Nacht sowieso keinen Schlaf mehr finden würde. Sie schlief sehr schlecht, seit sie hier war. Oder besser gesagt, seit sie wusste, wie er wirklich war. Sie hatte inständig gehofft, der Umzug würde ihr helfen.
Ich finde dich überall, hallte seine Stimme durch ihren Kopf. Du kannst dich nicht vor mir verstecken! Dabei hatte er anfangs so nett gewirkt. Verständnisvoll. Fürsorglich. Aber der Schein hatte getrogen. Er war ein Psychopath. Sein einziges Ziel war es, sie physisch und psychisch fertig zu machen. Und es war ihm gelungen. Stück für Stück. Jeden Tag ein wenig mehr. Als sie die Wahrheit erkannt hatte, war es bereits zu spät gewesen. Es war ihm gelungen, sie systematisch aus ihrem Umfeld zu isolieren. Erst aus ihrem Freundeskreis, dann der Familie und zuletzt noch aus ihrem Beruf. Er machte sie abhängig. In jeder Hinsicht. Sie erinnerte sich noch wie heute an den Tag, als sie keine andere Möglichkeit als Suizid oder Flucht sah, um der Hölle zu entkommen. Wie er sie wieder einmal verprügelt hatte, weil sie einen Fehler begangen hatte. Wie sie nackt und in ihrem eigenen Blut auf dem Boden des Badezimmers gekauert hatte. Er über ihr. Wie er sie angebrüllt und beschimpft hatte. 
Sie schloss die Augen und sofort flammten die Erinnerungen wieder auf. Es war ein regnerischer, trüber Abend gewesen, als sie einen Entschluss gefasst hatte. Sie hatte all ihre Habseligkeiten in einen kleinen Koffer gepackt und war abgehauen. Nur möglichst weit weg von ihm, war ihr einziger Gedanke. Zuerst hatte sie überlegt, nach Hamburg oder Berlin zu flüchten, aber der Gedanke an ihre Eltern hielt sie davon ab. Sie konnte die beiden nicht allein lassen. Ihre Eltern waren ihre größte Schwachstelle. Er kannte die beiden nicht persönlich, aber er wusste, dass es sie gab und dass sie ihr viel bedeuteten. Möglicherweise hatte er sie bereits aufgesucht, um ihren Aufenthaltsort zu erfahren. Er wusste, wie man Menschen zum Reden brachte. Ganz ohne Gewalt. Um ihre Eltern nicht in Gefahr zu bringen, hatte sie beschlossen, ihre neue Adresse geheim zu halten. Er durfte sie nicht finden. Niemals. Sie wusste nicht, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, hierherzukommen, wo er doch auf das Immobilienportal gestoßen war. Er konnte nicht wissen, ob und welche Wohnung sie gemietet hatte. Aber die Auswahl war begrenzt. 
Sie warf einen Blick in das Bad, anschließend in die Küche und in den Flur. Doch da war nichts. Vermutlich hatte ihr Unterbewusstsein ihr wieder mal einen Streich gespielt. 
Sie ging zurück ins Schlafzimmer, das gleichzeitig als Wohnzimmer diente, und setzte sich wieder auf die Bettkante. Ihr Puls beruhigte sich. Sie überlegte eine weitere Schlaftablette zu nehmen, die seit Wochen ihr ständiger Begleiter war. Bereits vor dem Zubettgehen hatte sie ein halbe genommen, aber es änderte nichts an dem Adrenalinschub, der bei jedem Geräusch durch ihren Körper schoss. Sie sah auf ihren Wecker, der neben dem Bett stand. Halb vier. Eigentlich viel zu spät zum Schlafen. Aber auch zu früh, um aufzustehen. Dank des Schlafmittels fühlte sie sich völlig gerädert. Es knarzte. Das kurze Gefühl der Erleichterung war sofort verflogen. Ihr Puls beschleunigte sich wieder. War jemand draußen auf dem Flur? Aber das war unmöglich. Sie hatte nachgesehen. Ein weiteres Knarzen. Das passierte nicht wirklich, oder? Da war niemand, redete sie sich ein, während die Angst ihr die Kehle zuschnürte. Ihr Blick war fest auf die Tür gerichtet. Er konnte hier nicht hereingekommen sein, oder etwa doch? 
Sie hatte die Wohnungstür zweifach abgeschlossen und ein eingeschlagenes Fenster hätte sie hören müssen. Diesmal klang das Geräusch viel näher. Er stand vor ihrer Zimmertür. Sie war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen. Sie war nicht fähig, aufzuspringen, zum Handy zu greifen und die Polizei zu holen. In ihrem Kopf wurde es ganz leise. Sie hörte nur noch ihren rasselnden Atem. 
Nichts geschah. Weder wurde die Tür geöffnet, noch hörte sie ein weiteres Geräusch. Es war totenstill. Nachdem sie eine gefühlte Ewigkeit auf die Tür gestarrt hatte, gehorchten ihre Beine wieder. Sie stand auf. Mit zittrigen Fingern berührte sie die Türklinke. Sie hielt den Atem an. Würde sie in der nächsten Sekunde in sein höhnisch grinsendes Gesicht sehen? 
Mit einer Handbewegung riss sie die Tür auf und blickte in einen leeren Flur. Sie atmete tief aus und ging zurück zur Kommode. Was war bloß los mit ihr? Sah sie Gespenster? Sie musste eine Schlaftablette nehmen, sonst überstand sie die Nacht nicht. 
Plötzlich spürte sie einen kalten Windhauch, der ihren Nacken streifte. Ein Knarzen. Eine Bewegung, die sie aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm. Und dann wusste sie es. Es war keine Einbildung gewesen. Sie war nicht verrückt. Ihr Puls beschleunigte sich auf hundertachtzig. Er stand direkt hinter ihr. 
„Hallo, meine Taube. Hast du mich vermisst?“ 

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